"Gesundheit fördern, heißt Demokratie fördern"

Diskussionspapier zum Kongress Armut und Gesundheit 2025

(Kurzversion, Stand 09.07.2024),  Lesen Sie hier die vollständige Version.

Seit 1948 setzt sich eine umfassende Definition von Gesundheit durch: „Gesundheit ist der Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen. Außerdem ist “das Erreichen des höchstmöglichen Gesundheitsniveaus eines der Grundrechte (eines) jedes Menschen, ohne Unterschied der ethnischen Zugehörigkeit [original: „race“], der Religion, der politischen Überzeugung, der wirtschaftlichen oder sozialen Stellung (übersetzt nach: Weltgesundheitsorganisation, 1948)”.

Trotz aller bisherigen Bemühungen sind die Chancen auf ein Leben in Gesundheit sehr ungleich verteilt, auch in Deutschland: Menschen in sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen sind besonders häufig von gesundheitlichen Beeinträchtigungen und schwerwiegenden chronischen Erkrankungen betroffen. Dies spiegelt sich auch in einer früheren Sterblichkeit und kürzeren Lebenserwartung wider (Lampert T, 2017; Hoebel, et al., 2024; Mielck, et al., 2021).  

Gesundheit wird individuell und sozial produziert, konstruiert und organisiert (Richter & Hurrelmann 2016; Faltermaier 2017; Nettleton 2021). Sie wird vom jeweiligen kulturellen, gesellschaftspolitischen und ökologischen Kontext beeinflusst und dabei beständig erneuert (Hafen 2016; Schmidt 2017; de Garine-Wichatitsky, Binot, Ward et al. 2021). Das “Regenbogenmodell” der Determinanten von Gesundheit (Dahlgren und Whitehead, 1991) ist neben der “Ottawa-Charta” (Weltgesundheitsorganisation, 1986) ein zentrales Konzept der soziallagenbezogenen Gesundheitsförderung. Mit diesem Modell wird veranschaulicht, wie – ausgehend von unveränderlichen genetischen Dispositionen, geschlechtlichen Voraussetzungen und Alter – Gesundheit direkt und indirekt durch Verhältnisse und Verhalten beeinflusst wird (Gesundheit Berlin-Brandenburg, 2023). Margaret Whitehead machte bereits als Keynote-Speakerin auf dem Kongress Armut und Gesundheit 2012 deutlich, dass es “politischer und gesellschaftlicher Strategien bedarf, um diese Determinanten so zu gestalten, dass gesundheitliche Ungleichheiten vermieden und verringert werden”.

Heute wird diese Forderung unter dem Konzept des „Health in All Policies“ subsummiert: Gesundheit in alle Politikfelder zu bringen, ist die logische Schlussfolgerung aus dem Determinantenmodell. Im Kern geht es darum, jede politische Entscheidung daraufhin zu untersuchen, welche Auswirkungen sie auf die Gesundheit der Menschen hat. Hierbei wird darauf fokussiert, Synergien mit anderen Politikbereichen zu nutzen, um die gesundheitliche Chancengleichheit zu verbessern. 

Wir wissen: Gesundheitsförderung ist (nicht nur, aber auch) in Krisenzeiten wichtig(er denn je)! Gerade dann sind gesundheitsförderliche und präventive Maßnahmen in Lebenswelten wie Betrieben, Schulen, Kindertagesstätten und/oder in der Pflege ein wesentlicher Bestandteil zur Überwindung der direkten und vor allem auch der indirekten Folgen z. B. einer Pandemie (Deutsche Gesellschaft für Public Health, 2020). Der Gesundheitsförderung kommt hier auch eine anwaltschaftliche Rolle zu, wenn es darum geht, für nachhaltige Investitionen in das öffentliche Gesundheitssystem einzutreten (Saboga-Nunes et al., 2020) und z. B. Einsparungen im Öffentlichen Gesundheitsdienst (Zukunftsforum Public Health, 2020) und weitere Missstände, wie die damalige temporäre Aussetzung der Mittel für Prävention (Deutscher Bundestag, 2020), zu benennen und ihnen zu begegnen. Nico Dragano macht darauf aufmerksam, dass dort, wo beispielsweise Präventionsprogramme und Informationskampagnen eingestellt werden, um Einsparungen zu realisieren, gravierende Folgen entstehen (Dragano, 2020). Selbiges lässt sich auch für die aktuell diskutierten Kürzungen in den Bereichen politische Bildung und Demokratieförderung für die Bundeshaushalte 2024 (Tagesschau, 2023) und 2025 (Gerade jetzt. Für alle., 2024) antizipieren.

Die Verringerung gesundheitlicher Ungleichheiten einschließlich derer, die durch die Pandemie verschärft wurden, erfordert eine langfristige Politik, bei der die Chancengleichheit im Mittelpunkt steht, betont Michael Marmot, zweimaliger Keynote-Speaker des Kongresses, in seinem Review “Build back fairer” (Marmot, 2021). Nun sind langfristige politische Entscheidungen v. a. in sich überlagernden und auch von Angst geprägten Krisenzeiten schwer herbeizuführen (Urner, 2024).

Der Handlungsdruck ist hoch: Jüngst hat der Paritätische Gesamtverband seinen aktuellen Armutsbericht (Paritätischer Gesamtverband, 2024) veröffentlicht: Demnach lebten 2022 16,8 Prozent der Bevölkerung Deutschlands in Armut (stagnierend hoch). Am stärksten von Armut betroffen sind weiterhin Alleinerziehende, kinderreiche Familien, erwerbslose Menschen, Menschen mit geringen Bildungsabschlüssen[1] und solche mit Migrationshintergrund. Mit 21,8 Prozent Armutsbetroffenheit bei Kindern und Jugendlichen war mehr als jedes fünfte Kind von Armut betroffen. Die kurz darauf veröffentlichte Expertise zu den Erstergebnissen des Mikrozensus zur Armutsentwicklung 2023 (Schneider, 2024) gab bezüglich des Rekordwertes der Kinderarmut im Vorjahr wieder Entwarnung (ebd.S.4), dennoch verharrt die Armut in Deutschland auf hohem Niveau und betrifft zunehmend auch Ältere und hier vor allem Frauen. Auf dem diesjährigen Kongress wurde auch darüber diskutiert, dass Menschen in Armut, neben der finanziell und oft auch gesundheitlich schwierigen Lage, zunehmend Stigmatisierung und Hass ausgesetzt sind (Kongress Armut und Gesundheit, 2024a).

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier betonte auf dem Kongress 2023, "dass diese Zahlen eine Herausforderung für unseren Sozialstaat sind. Sie berühren nicht nur unser Gerechtigkeitsempfinden, sondern berühren den Zusammenhalt der Gesellschaft und damit das, was Grundlage und Voraussetzung jeder gelingenden Demokratie ist (…). Nur ein Staat, der die Stimme der Ärmsten und Verwundbarsten nicht überhört, nur ein solcher Staat und eine solche Politik werden dauerhaft auf Akzeptanz stoßen (Kongress Armut und Gesundheit, 2023a).

Es bedarf einer sozial-ökologischen Transformation!

Die Herausforderungen werden nicht geringer: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, Schirmherr des Kongresses, bezeichnete den Klimawandel in seiner Eröffnungsrede 2024 als eine neue Facette der sozialen Frage: „Der Klimawandel ist ein Faktor, der die Nachteile, die arme Menschen haben (…), in allen Bereichen nur verstärken wird. Das, was an Armut jetzt schon einschränkend auf die Lebensqualität und Lebenserwartung wirkt, wird umso stärker wirken durch den Klimawandel. Das ist eine neue soziale Frage.“ Eine, die sich nicht getrennt von den zunehmenden gesellschaftlichen Ungleichheiten betrachten ließe: „Es sind diejenigen, die ohnedies durch Vermögen und Einkommen schon privilegiert sind, die einen großen Anteil am Klimawandel haben, unter denen der größte Teil der ärmeren Bevölkerung besonders leide (Kongress Armut und Gesundheit,2024).

Auch für Menschen, die bislang nicht in Armut leben, erhöht die Klimakrise das Risiko, in Zukunft unter die Armutsgrenze zu rutschen. Viele Menschen mit geringem Einkommen haben weder die finanziellen Möglichkeiten, sich an die Folgen der Klimakrise anzupassen, noch verfügen sie über die Mittel, auf langfristig kostengünstigere klimaneutrale Optionen umzusteigen (Klima-Allianz Klimawandel und Gesundheit, et al., 2024a).

Heinz Bude mahnte 2021 an, dass sich „(…) die Pandemie in Deutschland zu einem gesellschaftlichen Krisenphänomen weitet, was nicht nur die Ungleichheitsfrage und die Armutsfrage berührt, sondern die Gesamtkonstitution der Gesellschaft.“ Denn, so Bude weiter: „Gesundheit ist, ähnlich wie Sicherheit, ein existentielles Gut. Das heißt, bei seiner offensichtlichen Nichtgarantierbarkeit durch öffentliche Instanzen kann es sehr schnell zu Phänomenen sozialer Lähmung und kollektiver Erregung führen“ (Kongress Armut und Gesundheit, 2021). Mit Blick auf das aktuelle Ergebnis der Europawahlen im Juni 2024 ein besonders wichtiges Thema. „Im Augenblick gewinnen wir in ganz Europa keine demokratischen Wahlen mit dem Projekt der sozial-ökologischen Transformation. (…), betonte Dirk Messner vom Umweltbundesamt bereits im März 2024, „(…) wir sind in unserer Kommunikation nicht gut genug“ (Kongress Armut und Gesundheit, 2024b).

Unser Gesundheitsförderungsverständnis braucht ein neues Demokratieverständnis!

Gesundheitsförderung ist gesellschaftspolitisch verankert und auf die Lebenswelten der Menschen ausgerichtet. Eine solche Verankerung kann nicht ohne die Menschen selbst und deren aktives Mitwirken stattfinden. Die Autor*innen des Koalitionsvertrags von 2021 verorten Gesundheitsförderung und Prävention als wesentliche Bestandteile und weiten dies im Kapitel „Öffentliches Gesundheitswesen und Pandemiebewältigung“ auf alle politischen Ebenen und gesellschaftlichen Bereiche aus. Es bedarf „eines öffentlichen Gesundheitsdienstes, der seine Aufgaben in den Bereichen Prävention, Gesundheitsförderung, Gesundheitsplanung und der Gesundheitsberichterstattung zuverlässig wahrnehmen kann“ (Koalitionsvertrag, 2021). Um dies zu gewährleisten, muss Gesundheitsförderung niedrigschwellig und partizipativ ausgestaltet sein: Die Erfahrungen der Menschen, die von Armut betroffen sind, müssen unmittelbar in die Gestaltung von Programmen, Maßnahmen und Strategien einfließen (Öffentliche Anhörung des Gesundheitsausschusses des Bundestages, 2022).

Gesundheitsförderung ist ein Demokratieprojekt! Es gibt wechselseitige Beziehungen zwischen demokratischen Prozessen und Gesundheitsförderung: Die Stärkung demokratischer Prozesse fördert das gesellschaftliche Bewusstsein für gesundheitliche Chancengleichheit, die Selbstbestimmung und Mitbestimmung. Durch die aktive Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen erfahren Menschen Selbstwirksamkeit, stärken ihr Vertrauen in Institutionen und erleben soziale Unterstützung. All diese Faktoren sind wesentliche Determinanten für die Gesundheit. Zudem ermöglicht demokratische Teilhabe eine aktive Mitgestaltung der Gesellschaft hin zu gesundheitsförderlicheren Rahmenbedingungen. Umgekehrt kann die Förderung der Gesundheit dazu beitragen, die gesellschaftliche Teilhabe zu erhöhen, indem sie Menschen befähigt, ihre Rechte einzufordern und sich aktiv am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Der Kongress Armut und Gesundheit 2025 tagt daher unter dem Motto: „Gesundheit fördern, heißt Demokratie fördern“.

Um das soziale Miteinander, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die individuelle wie auch kollektive Gesundheit zu stärken, ist die Förderung von Partizipation und Mitbestimmung essenziell. Demokratische Prozesse und Strukturen sind grundlegende Voraussetzungen für eine gesunde Gesellschaft. Die Förderung der Demokratie und die Bekämpfung von Armut sind eng miteinander verknüpft, und es ist unsere gemeinsame Aufgabe, diese Wechselbeziehung in den Mittelpunkt unserer Bemühungen zu stellen.


Wir möchten daher auf dem Kongress Armut und Gesundheit 2025 dazu aufrufen, gemeinsam an der Schnittstelle von Gesundheit und Demokratie zu arbeiten und innovative Ansätze zu entwickeln, um gesundheitliche Ungleichheiten zu verringern und eine gerechtere und gesündere Gesellschaft zu schaffen. Als Gesamtstrategie brauche es hierfür positive Zukunftsbilder: „Wir brauchen die guten Geschichten!“ forderte Alena Buyx in ihrer Keynote auf dem Kongress 2024 (Kongress Armut und Gesundheit 2024). Dafür böte es sich an, die Themen Gesundheit und Klima miteinander zu vereinen und dabei die „soziale Gerechtigkeit und ökologische Schutzfrage nicht gegeneinander auszuspielen, wie Maja Göpel es in ihrer Keynote 2023 postulierte (Kongress Armut und Gesundheit, 2023b). Die multiplen Krisen unserer Zeit bieten die Chance, eine Transformation hin zu einer klimaverträglichen, ressourceneffizienten und gerechten Gesellschaft kraftvoll anzupacken. Die gute Nachricht dafür ist, dass sich „gerade an der Schnittstelle zwischen Klima- und Gesundheitspolitik viel getan habe in den letzten Jahren“ (Löffler, 2024). Das Konzept der Co-Benefits beispielsweise ist hierfür weiterhin sehr anschlussfähig, denn „Maßnahmen, die sowohl der individuellen Gesundheit (...) als auch der Begrenzung der Erderhitzung und der Eindämmung der Umweltkrisen (...) dienen, wirken sich gleich doppelt positiv auf unsere Gesundheit aus“ (Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit, 2024).

Wir möchten sie erzählen, die guten Geschichten – seien Sie gerne mit dabei!


[1] Wir sind uns dessen bewusst, dass die u.a. in der Sozial- und Gesundheitsberichterstattung genutzten Kategorien wie „niedrige Bildung“, „Menschen mit Migrationshintergrund“, oder „sozial benachteiligt“ kritisch wahrgenommen werden, nicht nur, weil sie als stigmatisierend empfunden werden, sondern auch, weil daraus nicht hervorgeht, dass Menschen in ihren Chancen beschnitten werden. Da sie jedoch Grundlage der erhobenen Daten sind, halten wir hier an den Begrifflichkeiten fest.

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