Carola Gold-Preis 2021 geht an Thomas Lampert und die Poliklinik Veddel

Auch in diesem Jahr, in dem der Kongress Arbeit und Gesundheit aufgrund der Pandemiesituation ausschließlich digital stattfand, wurde wieder der Carola Gold-Preis für gesundheitliche Chancengleichheit verliehen. Besonders war die Preisverleihung in diesem Jahr insofern, als erstmalig einer der Preise posthum verliehen wurde: an PD Dr. Thomas Lampert, der im Dezember verstorben ist und mit dem viele von uns beruflich und persönlich eng verbunden waren. Auch in einem weiteren Aspekt war diese Preisverleihung anders als bisher: Erstmals wurde nicht nur eine Einzelperson ausgezeichnet, sondern mit der Poliklinik Veddel aus Hamburg ein ganzes Kollektiv engagierter Personen.

Warum gibt es diesen Preis und weshalb trägt er den Namen Carola Gold?

Im Frühjahr 2012 verstarb die Geschäftsführerin des Vereins Gesundheit Berlin-Brandenburg, Carola Gold, nach kurzer und schwerer Krankheit. Schnell war ihren zahlreichen engen Wegbegleiter:innen klar, dass man ihr Engagement für mehr gesundheitliche Chancengleichheit in Erinnerung halten möchte: Das Thema, dem Carola Gold ihr Herz und ihren Verstand gewidmet hat.

Ihr Wirken war davon geprägt, sich nicht mit halbgaren Lösungen zufrieden zu geben. Sie hat ihre Energie stets darauf verwendet, mehr Chancengerechtigkeit zu fordern und dafür auch geeignete Wege zu entwickeln. Es scheint nicht vermessen zu behaupten, dass sie maßgeblich mit verantwortlich dafür ist, dass die sogenannten kommunalen „Präventionsketten“ heute anerkannte und erprobte Strategien in der Gesundheitsförderung sind. Ihr Einsatz für Chancengerechtigkeit war kein wohlmeinender Paternalismus für benachteiligte Gruppen. Gelebte Partizipation, Empowerment und Teilhabe bildeten ihren Kompass. Ihre Vision war eine solidarische, gerechte Gesellschaft, in der jeder Mensch unabhängig von seiner Herkunft und Disposition faire Verwirklichungschancen hat.

Aus diesem Grund stifteten die Landesvereinigungen für Gesundheit(sförderung) aus Hamburg, Niedersachsen, Thüringen, Schleswig-Holstein, Sachsen und Hessen gemeinsam mit dem AWO Bundesverband diesen Preis, der seit 2013 jährlich vergeben wird

Thomas Lampert – Geradliniger Brückenbauer zwischen Wissenschaft und Praxis

Thomas Lampert, zuletzt Leiter der Abteilung Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring am Robert Koch-Institut, hat den Kongress mit seinen Daten, seinen Veranstaltungen und auch seiner Beratung und Teilnahme an den Pressekonferenzen unterstützt. Sein Tod hat viele Menschen tief getroffen. Viele teilten den starken Impuls, sein Wirken in besonderer Weise sichtbar zu machen. Der Kongress Armut und Gesundheit schien ein guter Ort, dies umzusetzen. Mit dem Fachsymposium am Vormittag des zweiten Kongresstages sowie der Ehrung im Rahmen der Preisverleihung wurde dem Ausdruck verliehen. Beide Veranstaltungen waren von Gefühlen der Trauer und Anteilnahme geprägt, blickten jedoch auch nach vorne und so stellten die Beteiligten des Symposiums bewusst die Frage: „Wie tragen wir deine Arbeit fort?“

Stephan Koesling, Geschäftsführer der Sächsischen Landesvereinigung für Gesundheit, hielt die Laudatio für Thomas Lampert. Für ihn war er vor allem eines: geradlinig. Er beschrieb ihn als einen „Brückenbauer zwischen Forschung und Praxis“. Koesling wies zunächst darauf hin, dass in der Vorbereitung große Einigkeit herrschte, in diesem Jahr Thomas Lampert posthum mit dem Preis zu ehren. Und ihn damit in eine Reihe mit vielen Carola Gold-Preisträger:innen zu stellen, die sich beruflich wie persönlich herausragend für das Thema der gesundheitlichen Chancengerechtigkeit engagiert und die fachliche Diskussion darüber maßgeblich geprägt haben. Für diese Entscheidung habe es viel positive Resonanz aus der Public Health-Community gegeben.

Stephan Koeslings gemeinsamer Weg mit Thomas Lampert begann in den Arbeitsgruppen der verschiedenen Fachgesellschaften, z. B. der für Medizinische Soziologie, deren gemeinsames Interesse die Themen Gesellschaft und Medizin, soziale Determinanten von Gesundheit sowie gesundheitliche Chancengerechtigkeit waren. Diese Themen waren ihr gemeinsamer Kompass, ihre Agenda. Thomas Lamperts Lebensweg führte ihn zum Robert Koch-Institut.

Es ist das Bild der Geradlinigkeit, des Geradeausseins, das ihn ausmachte, das den Umgang mit ihm so klar, so angenehm, so fair, so humorvoll, so authentisch machte, so Koesling. Geradlinig und zielstrebig sei er in seinem beruflichen Anliegen gewesen, in seinen empirischen Themen der Sozialepidemiologie, aber auch hartnäckig in den Diskussionen. Er sei im wahrsten Sinne des Wortes einBrückenbauer zwischen Forschung und Praxis gewesen, was sich in der Wertschätzung seiner Arbeit in beiden Bereichen zeigte. Geradlinig und fair war er zudem in seinen Bemühungen, sein Wissen und seine Erfahrungen an junge Nachwuchsforscher:innen weiter zu geben und deren berufliche Wege zu unterstützen.

Mit diesen Eigenschaften, seiner Beharrlichkeit und seinem kreativen Tun, habe er mit dem Team des RKI die Datenlandschaft maßgeblich geprägt. Damit unter anderem eine Basis für die Kinder- und Jugendgesundheit gelegt, für die die RKI-Studie zur Kindergesundheit (KiGGS) beispielhaft steht. So habe er auch Interventionen und Interventionsforschung möglich gemacht und damit einen herausragenden Beitrag geleistet. Er war in vielen wissenschaftlichen Gremien vertreten, so auch im Gutachterkreis der Armuts- und Reichtumsberichterstattung des Bundes.

Thomas Lampert sei ungemein produktiv gewesen, merkte Koesling an. Bis zu staunenswerten 40 Publikationen hatte er in so manchem Jahr mitproduziert, wie schon während des Fachsymposiums hervorgehoben wurde. Oft, wenn es um den Zusammenhang zwischen sozialer Lage und Gesundheit ging, tauchte sein Name auf. Über die Daten mit ihm verbunden zu bleiben, werde auch weiterhin möglich sein, betonte Koesling. Sein Verdienst um eine Datenbasis, um ein Monitoring mit dem Fokus auf soziale Determinanten und damit auch auf gesundheitliche Chancengerechtigkeit werde uns noch viele Jahre lang von Nutzen sein.

Stephan Koesling beendete seine Laudatio mit den Worten:

"In seinem Sinn werden wir als Public Health-Community an diesen Themen weiterarbeiten und der Kongress Armut und Gesundheit wird dafür ein Platz sein. Aber er wird uns auch fehlen mit seinem Weitblick und seinem Erfahrungshintergrund, mit seiner Persönlichkeit und seinem Einsatz. Unser tiefes Mitgefühl gilt seiner Familie, den Verwandten und Freunden in dieser Zeit des Abschieds und der Trauer.“

Stellvertretend für die Familie hielt Dr. Benjamin Kuntz, Gesundheitswissenschaftler am Robert Koch- Institut und langjähriger Mitarbeiter von Thomas Lampert, eine kurze Dankesrede. Daran schloss sich ein Moment des stillen Gedenkens an.

Poliklinik Veddel – Gesundheitsförderung als umkämpfte soziale Praxis

Der zweite Preis wurde in diesem Jahr an das Kollektiv der Poliklinik Veddel verliehen, das als Stadtteil-Gesundheitszentrum – die Veddel ist ein kleines Quartier im Hamburger Bezirk Mitte – herausragende Arbeit leistet. Die Laudatio hielt Dr. Andreas Wulf, der selbst Arzt und seit 1998 bei medico international tätig ist. Die Poliklinik Veddel, so Wulf, stehe in einer langen Tradition sozialmedizinischer und gesundheitsförderlicher Konzepte und Praxen, die sich nicht abfinden wollen mit den allzu bekannten Tatsachen sozialer Ungleichheit von Krankheit und Gesundheit, von Lebenschancen und Sterberisiken. Diese Ungleichheit und Ungerechtigkeit versuche sie immer wieder in ihren jeweiligen historischen, politischen und gesellschaftlichen Kontexten zu ändern.

Wie enorm wichtig dies sei, zeige sich einmal mehr angesichts der Covid-19-Pandemie, so Wulf, „in der wir zwar viel über Bettenkapazitäten auf Intensivstationen, mutierende Viren, Impfstoffproduktion und epidemiologische Modellrechnungen hören und diskutieren, aber wesentliche Fragen der sozialen Bedingtheit von Infektionsrisiken und Erkrankungsverläufen schon aufgrund fehlender geografisch differenzierter und nach Sozialstatus disaggregierter Daten unbeantwortet und damit auch unbehandelt bleiben.“

Hier habe sich die Poliklinik Veddel seit ihrer Entstehung für eine bessere kleinräumige Gesundheitsberichtserstattung eingesetzt und wird dies auch mit einer eigenen Forschungspraxis in Zukunft umsetzen können, um die Zusammenhänge gesellschaftlicher Bedingungen und Gesundheit transparenter und für die eigene Arbeit nutzbar zu machen.

In ihrer eigenen Geschichte kann die Poliklinik Veddel auf eine mindestens 25-jährige Zeit des langen Atems zurückblicken, so Wulf, – und das, obwohl sie erst 2017 formal gegründet und in der alten Remise Am Zollhafen 5b eröffnet wurde. Denn sie entstand ursprünglich aus dem Kollektiv des Hamburger Büros für medizinische Flüchtlingshilfe, das als damals erstes in Deutschland 1995 auf die Krise der zunehmenden Illegalisierung von Geflüchteten und Migrant:innen reagierte. Diese war im Zuge der Aushöhlung des deutschen Asylrechts und der verschärften Grenzregime in der 1992 geschaffenen Europäischen Union entstanden. 

In dieser Arbeit– damals in der medizinischen Flüchtlingshilfe und heute in der Poliklinik Veddel – wurden und werden Begriffe wie die „Sozialen Determinanten der Gesundheit“ unmittelbar konkret: Politische, soziale und ökonomische Bedingungen müssten sich ändern, um Gesundheit zu erreichen, wieder herzustellen und zu sichern. Und diese Änderungen geschehen nicht automatisch und können nicht allein staatlichen Strukturen oder formalen politischen Entscheidungsprozessen überlassen werden.

Die Poliklinik formulierte ihren Standpunkt selbst:

Begreifen wir Gesundheitsförderung wieder als umkämpfte soziale Praxis. Denn die Gesundheit, Freiheit und Emanzipation sowohl des und der Einzelnen als auch der Gesellschaft hängen eng miteinander zusammen und entstehen durch die Schönheit solidarischer kollektiver Ermächtigung“.

Aber zur Konkretisierung brauchte es mehr als eine solche Vision. Es braucht auch den Mut, damit anzufangen und es in der Praxis zu testen. Denn „the proof of the pudding is in the eating“, so der Laudator. Die Poliklinik Veddel hatte den Mut, ihr multidisziplinäres Konzept anzugehen, betonte Wulf. Auch wenn es zu Beginn nicht klar gewesen sei, wie schnell und wie umfangreich sie dieses mit medizinischen, sozialen und am Gemeinwesen orientierten Angeboten und Aktivitäten umsetzen und ausbauen würden können – in den gerade mal vier Jahren ihres Bestehens habe sie gezeigt, dass es gelingen kann, auch unter den prekären Bedingungen zeitlich begrenzter Projektfinanzierungen, neben einer Allgemeinarzt- und einer Hebammenpraxis Stellen für Gemeinwesenarbeit und lokale Präventionsarbeit, für Gesundheits-, Pflege-, Sozial- und psychologische Beratung zu etablieren und selbst Gesundheitsforschung zu integrieren.

Dass sie aus ihren Erfahrungen in der lokalen Arbeit sehr konkrete Vorschläge auch für die uns alle seit einem Jahr umtreibende Covid-19-Pandemie und vor allem auch für die Zeit danach entwickelten,

zeigt die Relevanz dieses neuen Aufbruchs in eine gemeinschaftliche, solidarische Gesundheitsarbeit.

Eine Herausforderung wird es sein, so Wulf, solch konsequent vom lokalen Kontext ausgehende Arbeit in eine konstruktive und sicher nicht widerspruchsfreie Beziehung zu den „verfassten“ Strukturen des deutschen Gesundheitswesens mit Öffentlichem Gesundheitsdienst, Sozialbehörden, Selbstverwaltungsorganen zu bringen. Diese Aufbruchsstimmung mache Lust auf mehr und verdiene unser aller Unterstützung. Wulf wünschte sich abschließend, dass durch die Auszeichnung mit dem Carola Gold-Preis dieses Vorreiterprojekt für eine kollektive, solidarische und emanzipatorische Praxis die Aufmerksamkeit und Anerkennung erhält, die es verdient und beglückwünschte das Kollektiv der Poliklinik Veddel ganz herzlich zu dieser großen Ehrung.

Im Anschluss an die Laudatio nahmen Milli Schröder von der Poliklinik Veddel und Katja Schlegel, die in der Öffentlichkeitsarbeit und als Projektkoordination für die Klink tätig ist, den Preis für das Kollektiv entgegen und bedankten sich. Die Preisverleihung klang in zwei kleineren virtuellen Gesprächsräumen aus, in denen zahlreiche Teilnehmende ihre Eindrücke teilen und sich austauschen konnten.

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