Gesund – Gerecht – Gemeinsam!
Prof. Annelie Keil und Prof. Gerhard Trabert erhalten den Carola Gold-Preis 2018. Und wieder einmal stellt sich das Gefühl ein: Besser kann es gar nicht passen! Wem, wenn nicht diesen Beiden, sollte die Ehre zuteilwerden, mit diesem Preis ausgezeichnet zu werden?
Seit 2013 wird diese Auszeichnung an Menschen verliehen, die sich wie die Namensgeberin des Preises mit besonderer Ausdauer und Hingabe für die Bekämpfung gesundheitlicher Chancenungleichheit einsetzen.
Biografisches zu Gerhard Trabert
- geboren am 3. Juli 1956 in Mainz, Vater von vier Kindern
- 1975 bis 1979 Studium der Sozialarbeit an der Fachhochschule Wiesbaden, 1983 bis 1989 Studium der Humanmedizin
- Inspiriert von einer Hospitation in einem Leprakrankenhaus in Hyderabad in Indien, gründete er 1994 das Mainzer Modell, eine medizinische Versorgungseinrichtung für wohnungslose Menschen
- Gründer und 1. Vorsitzender des Vereins Armut und Gesundheit in Deutschland, sowie des Vereins Flüsterpost (Verein zur Unterstützung von Kindern an Krebs erkrankter Eltern)
- zahlreiche Auslandseinsätze unter anderem in Indien, Bangladesch, Haiti und Angola, 2015 - 2016 Sea-Watch – Zivile Seenotrettung von Flüchtenden im Mittelmeer/Malta/Italien, 2017-2018 in Syrien und dem Irak
- Von 1999 bis 2009 Professur für Medizin und Sozialmedizin an der Georg-Simon-Ohm-Hochschule Nürnberg, seit 2009 Professor an der Hochschule Rhein Main in Wiesbaden im Fachbereich Sozialwesen, er unterrichtet die Fächer Sozialmedizin sowie Sozialpsychiatrie
- Seit 2013 leitet er die von ihm konzipierte „Ambulanz/Poliklinik ohne Grenzen“ in Mainz
- verschiedene Auszeichnungen, u.a. Bundesverdienstkreuz (2004), Kinderschutzpreis (2009), Paracelsus-Medaille (2014; höchste Auszeichnung der Deutschen Ärzteschaft), Verdienstorden Rheinland-Pfalz (2015)
"Der Arzt Gerhard Trabert schaut nicht weg", beginnt Dr. Uwe Denker seine Laudatio. Er selbst ist Gründer der „Praxen ohne Grenzen“ in Bad Segeberg (Schleswig-Holstein) und damit Mitstreiter im Kampf gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeiten. "Er geht auf seine Patient*innen zu. Er behandelt Wohnungslose und Arme. Wenn sie nicht zu ihm ins Arztmobil kommen, kommt er zu ihnen. Und wen er lange nicht gesehen hat, den sucht er. Er sucht nach denen, die von anderen nicht gesehen werden, den Obdachlosen, den Armen, den Menschen, die im Schatten leben. Seine Praxis ist das Arztmobil. Jede*r Patient*in wird hier ohne Diskriminierung behandelt. Tätige Nächstenliebe nenne ich das."
Seit über 20 Jahren fährt Gerhard Trabert mit seinem Arztmobil durch Mainz. Rund 650 Patient*innen behandelt er pro Jahr. "Gerhard Trabert ist Streetworker und Arzt zugleich." Er ist Gründer des Vereins Armut und Gesundheit e.V. und Mitbegründer des gleichnamigen Kongresses. Er setzt sich dafür ein, Gesundheit als Menschenrecht anerkannt zu sehen. In wenigen Minuten wird er sich aufmachen zum Brandenburger Tor, um dort auf einer Kundgebung zu sprechen, die sich für genau dieses Thema stark macht und von „Ärzte der Welt“ gemeinsam mit 22 Initiativen – darunter Armut und Gesundheit e.V. und Gesundheit Berlin-Brandenburg e.V. – ausgerichtet wird. Deshalb, so Uwe Denker, sei die Laudatio zu kurz, um alle Verdienste des Ausgezeichneten zu benennen. „Das Schlusswort soll einer von Gerhard Traberts Patienten haben, der gesagt hat: 'Doktor, du bist so'n Guter!' Dem habe ich nichts hinzuzufügen!“
Empörung und Gleichwürdigkeit
Nachdem Gerhard Trabert den Preis in Empfang genommen hat, erklärt er: „Ich bekomme viele Preise, bin aber häufig sehr ambivalent. Weil ich das Gefühl habe, instrumentalisiert zu werden.“ Nicht so bei diesem Preis, der den Namen der ehemaligen Geschäftsführerin von Gesundheit Berlin-Brandenburg trägt. Carola Gold. „Deshalb ist dieser Preis der wichtigste für mich, weil ich ihn so stark mit ihrer Person verbinde.“
Zwei Dinge möchte Gerhard Trabert den Anwesenden mit auf den Weg geben. Erstens die Lektüre von Stéphane Hessel, um dem zunehmenden Nationalismus und Rassismus etwas entgegenzusetzen. In Hessels Buch 'Empört euch' formuliert dieser den wunderbaren Satz: „Leistet Widerstand und schafft Neues! Schafft Neues und leistet Widerstand!“ „Wir wollen aber nicht nur Widerstand leisten. Wir wollen mit dem, was wir tun, auch fantasievoll neue Wege gehen!“, so Trabert.
Zweitens macht sich Trabert stark für den Begriff der Gleichwürdigkeit. „Wir haben schon versucht, den Begriff bei Duden aufnehmen zu lassen“, erklärt er und man merkt ihm an, wie wichtig ihm dieses Wort ist. „Dieser gilt auch für Menschen am Rande der Gesellschaft. Es geht darum, den Menschen Respekt und Würde zurückzugeben. Ich würde mir wünschen, dass Politiker*innen in ihrem Reden respekt- und würdevoll sind.
Es ist nicht immer leicht. Das weiß ich auch von mir. Auch wir sind mitunter müde, entnervt, frustriert... Aber: in dieser Begegnung mit dem Anderen passiert etwas! Es ist nicht nur ein Geben, sondern ein Bekommen. Dazu möchte ich Sie alle einladen!
Ich wurde heute gefragt: Was soll ich tun? Wenn Sie einem Menschen in Not auf der Straße begegnen, schenken Sie das Wertvollste, was Sie haben: fünf Minuten Ihrer Zeit.“ Damit verlässt er den Raum. Die Zeit drängt.
Nach einer musikalischen Überleitung, in diesem Jahr von Camillo Kießig mit Gitarre, ergreift Stefan Pospiech, Carola Golds Nachfolger als Geschäftsführer von Gesundheit Berlin-Brandenburg, das Wort und knüpft an das Gesagte an: „Gerhard Trabert hat in seiner heutigen Veranstaltung betont, wir sollten mehr Mut haben, das Recht auf Gesundheit einzufordern. Was könne uns denn schon passieren in einem Land wie Deutschland, wenn wir laut wären?! Laut war Carola auch. Und nicht immer diplomatisch. Und das war gut so!! Darin war sie mir ein fruchtbares Vorbild. Dafür stand Carola!
Mein Dank gilt den Landesvereinigungen für Gesundheit und dem AWO-Bundesverband, die den Preis mit unterstützen. Er gilt aber auch euch allen. Denn ein Preis ist immer nur dann schön, wenn es auch Menschen gibt, die ihn mittragen.“
Ein Leben wie eine Patchwork-Decke, die wärmt und guttut
Die Laudatio für Annelie Keil hält Ulrike Hauffe, Landesbeauftragte für Frauen des Landes Bremen a. D. „Wenn Professorin Annelie Keil hier und heute mit dem Carola Gold-Preis ausgezeichnet wird, dann stimmt alles: Der Kongress Armut und Gesundheit als thematischer Rahmen repräsentiert ihre Arbeit. Und die Namensgeberin mit ihrem Engagement zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation von Menschen in schwieriger sozialer Lage passt auch zu dem, was Annelie Keil fast tagtäglich macht – und das seit Jahrzehnten.“
Biografisches zu Annelie Keil
- geboren am 17. Januar 1939 in Berlin
- studierte Politikwissenschaften und Soziologie an der Universität Hamburg, später auch Psychologie und Pädagogik
- promovierte 1969 über das Thema der staatlichen Subvention von Jugendbildung und arbeitete anschließend als Akademische Rätin an der Universität Göttingen
- 1971 an der Gründung der Universität Bremen beteiligt
- wechselte als Professorin für Sozial- und Gesundheitswissenschaften in die Hansestadt Bremen
- Psychosomatik ist das wichtigste Forschungsgebiet der Gesundheitswissenschaftlerin
- 1992 wurde ihr der erste Berninghausen-Preis für ausgezeichnete Lehre und ihre Innovation zugesprochen, 2004 wurde sie emeritiert
- in der Hospizbewegung aktiv
- 2004 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet
- engagiert sich seit 2011 für das bedingungslose Grundeinkommen
„Frauenbiographien wird üblicherweise der Begriff Patchwork zugeschrieben – eine meist zutreffende Beschreibung für die besondere Webart des Frauenlebens. Verschiedene, aber in der Gesamtheit passende Stoff- oder Webmuster sind durch „Brücken“ (aus Garn oder Faden) systematisch zusammengefügt, verbunden und bilden eine Gesamtheit, die ein Guss wird und – in der Form einer Decke – auch noch wärmt, guttut, emotionalisiert. Aber was hat ein vielfarbiges, aus wertvollen, aber auch aus ursprünglichen, einfachen, bewährten Materialien zusammengesetztes großflächiges stoffliches Werkstück mit Annelie Keil zu tun? Annelie Keil lebt eine eher untypische Frauenbiographie und trotzdem frauentypisch. Ihr Aufbau von weit verflochtenen Beziehungsstrukturen, quasi in die Fläche wirkend, ist auch wie eine Patchwork-Decke, nicht linear, sondern raumgreifend, und wie eine Decke wärmend.
Annelie Keil ist eine Grenzgängerin und doch mittendrin. Sie repräsentiert die Farbigkeit, Wärme, Weite und Breite von zusammengefügten Patchworkdecken-Flecken ebenso wie die universitäre Höhe und die horizontale Verwurzelung, die Bodenhaftung.“
Die Laudatorin betont, dass sich Annelie Keil ihr Leben lang eine große Familie organisiert hätte, ein Netz aus Beziehungen – aus allen Jahren des beruflichen und privaten Lebens. Sich selbst bezeichnet Ulrike Hauffe als Teil der Familie um Annelie Keil und eine große Dankbarkeit schwingt in ihrer Stimme mit. Beide Frauen umarmen sich herzlich, ehe Blumen und Preis, der von Cornelia Stretz entworfen wurde und an einen Kompass erinnert, an die Preisträgerin überreicht werden. Auch für Annelie Keil ist dieser Preis ein Besonderer: „Als ich das Bundesverdienstkreuz bekommen habe, wurden die Projekte, für die ich ihn erhielt, gerade verscherbelt... Auf diesen Preis hier bin ich wirklich stolz!“
Annelie Keil geht auf die 80 zu – „Aber Alter spielt keine Rolle, außer man ist ein Käse!“ – und nutzt die Gelegenheit, um zurückzublicken. Geboren als uneheliches Kind einer alleinerziehenden Mutter, die gerade ihren zweiten Weltkrieg erlebte, kam sie in ein Kinderheim und Waisenhaus. Dieses wurde nach Polen verlegt. 1945 kam ihre Mutter und nahm sie zu sich. „Ich bin mit einer mir fremden Frau geflüchtet.“ 1947 kamen sie im Flüchtlingslager Friedland an. In der Schule wurde sie drangsaliert. Sie lernte es, sich zu wehren, auch mit den Fäusten. Sie lernte das Klauen. Und 1948 die Erfahrung, betteln zu gehen. „Das vergessen Sie nie... “ All dies war ihr Anstiftung für das Leben! „Ich habe die Kurve gekriegt, aber ich hab nie vergessen, woher ich kam.“
Glücklich sei sie darüber, dass sie so viele Chancen hatte, sich politisch einzubringen. „In meinem Alter fragt man sich: 'Hast du deinen roten Faden gehalten?'“ Zum Abschluss verbalisiert sie ihre Enttäuschung über die Public Health-Zunft. „Ich vermisse in den Wissenschaften den interdisziplinären Ansatz!“ Und: „Bei gesundheitspolitischen Entscheidungen wünsche ich mir mehr Stellungnahme! Position beziehen! Keiner wagt hier ein Berufsverbot!“
Auch insofern stimmt alles, wenn Annelie Keil auf dem 23. Kongress Armut und Gesundheit, der sich – „Gemeinsam. Gerecht. Gesund.“ – dem Schwerpunkt Health in All Policies widmet, mit dem Carola Gold-Preis ausgezeichnet wird. Das Bild seiner Namensgeberin steht im Hintergrund auf einer Staffelei. Die Frau mit ihren wilden, rotblonden Locken. Und einer großen Entschlossenheit im Gesicht. Auch sie hätte sich über den Abend sehr gefreut.
Autorin: Marion Amler
Fotos: André Wagenzik